Es könnte sich ja schnell die Frage stellen, warum eine keltische Frau ausgerechnet auszieht, die religiösen Inhalte der Germanen zu konfrontieren. Zum einen wäre da sicher die Antwortmöglichkeit, dass man die keltische Mythologie nicht annhähernd so detailliert hätte mit einweben können, weil über die Kelten weitaus weniger bekannt ist in der heutigen Zeit als über die germanischen Völker.
Es macht aber auch in der Story Sinn. Die Stimme, die die Geschichten der Nordmänner erzählt ist die von Druth, der jahrelang von den Wikingern als Sklave gehalten worden war, was ihn einerseits vieles über sie erfahren, ihn aber auch in den Wahnsinn abdriften ließ. Die Runensteine (wahrscheinlich sind sie außerhalb von Senuas Kopf nichts anderes als große Findlinge, Treibgut oder ähnliches) triggern einfach nur Erinnerungen in ihr an Dinge, die ihr Druth erzählt hatte, während sie in die Wildnis ins Exil geflüchtet war und ihm dort über den Weg lief.
Die Runensteine, die rein Gameplaymechanisch so etwas wie "collectables" sind, ermöglichen zum einen dem Spieler (teils sehr detailliert) Bilder und Bezüge aus der (nord)germanischen Mythologie kennenzulernen (die nordgermanische / Wikingermythologie hatte teils abgewandelte Namen für die Götter und kannte auch noch ein paar abweichende Geschichten und Figuren; z. B. war Hel bei den über Europa verbreiteten Germanen lediglich der Ort, an den alle nicht im Kampf gestorbenen Menschen hinkommen, während sie bei den im Norden verbliebnen Germanen über die Zeit auch in der Riesin / Gottheit Hel personifiziert wurde), sie bilden aber auch die Begründung für das, was man in der Haut oder besser gesagt, wortwörtlich im Kopf von Senua während der Spielstunden so erlebt und zu Gesicht bekommt.
Man sollte, finde ich, auf jeden Fall NACH(!) DEM ERSTEN DURCHSPIELEN die Kurzdoku über die Entwicklung des Spieles anschauen. Da wird auch teils auf das eingegangen, was die Entwickler über das im Spiel dargestellte Krankheitsbild erfahren haben. Ich fand das insgesamt hilfreich; auch weil es mir die Frage beantwortete, in welchen historischen Kontext man die Geschichte einordnen könnte. Ich tendierte zwar bei den Nordmännern, aufgrund der Namen der Götter, von Anfang an zu den Wikingern, wusste aber nicht, dass die so um das 9. Jahrhundert herum tatsächlich mal eine Weile recht aktiv auf Britanien "tätig" waren. Daher war ich nicht sicher, ob man nicht vielleicht auch damit auf die Angelsachsen anspielen wollte, obwohl gegen die auch noch zusätzlich hätte sprechen können, dass die zu der Zeit, als die sich, vom heutzutage südlichen Dänemark und nördlichem Schleswig-Holstein aus, in Britanien niederließen, evtl. schon christianisiert waren, was ich aber leider ausdrücklich nicht weiß...
Außerdem ist mir auf Basis dessen noch ein Gedanke zu der Sache mit dem angeblichen "Permadeath" gekommen. Ich glaube nicht, dass das eine Art PR-Stunt sein sollte. Tatsächlich vermute auch ich dahinter, wie schon jemand anders andeutete, eine besondere Form des Aufbrechens der vierten Wand bzw. eine noch nachdrücklichere Involvierung des Spielers in Senuas Geisteszustand. Menschen wie sie sehen Dinge, die objektiv nicht da sind, aber dennoch für sie selber absolut real existieren (also quasi wie der Sozialismus in der DDR...
, sorry für den üblen Witz, aber das kam mir direkt bei real existierend). Senua glaubt ab der Stelle am Anfang der Geschichte, mit der sie verfolgenden Dunkelheit direkt in Kontakt gekommen zu sein, wodurch sich langsam eine Fäulnis über ihren Arm empor arbeitet. Dadurch, dass dem Spieler gleich in dieser Situation suggeriert wird, stirbst du zu oft, passiert das, was Senua in dieser "Vision" sieht, in der sie auf dem Boden liegend stirbt und verrottet, wird der Spieler im Prinzip diesbezüglich voll auf dieselbe Fährte geführt, wie Senuas Geist es mit ihr tut. Die (mutmaßlich nur imaginierte) Dunkelheit an ihrem Arm wird so auch fü den Spieler zu einer realen Bedrohung. Er nimmt sie nicht nur als Teil von Senua wahr, sondern auch als Teil seines eigenen Erlebens ihrer Geschichte; und das, obwohl, wie tatsächlich leider viel zu schnell über das Netz geleakt wurde, es diese Bedrohung gar nicht gibt. Sie existiert nur durch die Ängste des Spielers, so wie die Dunkelheit und all die anderen Dinge wohl auch nur existieren durch die Versuche von Senuas Geist, sich die Erlebnisse ihres ganzen Lebens auf ganz spezielle Weise zu "rationalisieren" und vor allem eine Möglichkeit zu finden, mit dem Tod des Menschen, der ihr einziger Anker zu sein schien, umzugehen.
Das stellt in meinen Augen, wie auch einiges anderes in dem Spiel, eine Art der Darstellung des Geisteszustandes eines Protagonisten dar, wie er so auch wirklich einzig nur über das Medium Videospiel möglich ist; was so kein Buch oder Film an seinen Leser bzw. Zuschauer übermitteln kann. Und dass Ninja Theory das hier so umgesetzt hat, derart clever dieses Medim verwendet haben, um genau das alles den Spieler so eindringlich darzustellen, das macht dieses Spiel, trotzt seiner vordergründig recht konservativen und nicht besonders komplexen Spielmechaniken, in meinen Augen schon zu etwas ganz besonderem.
Es gab noch nicht viele Spiele, die mich derart auf gleich mehreren Ebenen zu beeindrucken gewusst haben. Dafür danke an die Entwickler!