Kajetan hat geschrieben:
Ja und? Ändert die Ignoranz von Menschen etwas an dem Umstand, dass Gordon Freeman als Profi-Killer und Massenmörder etwas unglaubwürdig ist, wenn er ganz klar als harmloser Wissenschaftler eingeführt wird, der allenfalls akademische Ehren vorzuweisen hat?
Die Fähigkeit, Dinge auszublenden, die man für sein Spielerlebnis und seinen Spaß als nebensächlich oder irrelevant empfindet, würde ich nur bedingt als "Ignoranz" bezeichnen. Man trennt einfach - auf der Basis persönlicher Vorlieben - Wesentliches von Unwesentlichem. Für den einen stehen vielleicht Gameplay und Mechnismen, für den anderen Story und Atmosphäre, für einen Dritten Realitätsnähe und Authentizität im Vordergrund. Das hat in allen Fällen seine Berechtigung, aber in keinem Falle etwas mit Ignoranz zu tun.
Kajetan hat geschrieben:
Muss man alles ignorieren, was nicht perfekt ist?
Das sagt ja niemand, aber je mehr Nicht-Perfektes Du verzeihen oder gar ganz ignorieren kannst, desto mehr Spaß hast Du mit einem Spiel, und darum geht es doch letztlich - um den Spaß. Was für Dich vielleicht eher die Unfähigkeit zur Wahrnehmung oder der Unwillen zur Auseinandersetzung mit Fehlern ist, ist für mich die Fähigkeit, sie zu erkennen, sie aber trotzdem verzeihen oder gar komplett ausblenden zu können - ganz im Sinne eines Spiels, das erst einmal nur unterhalten möchte, und dabei ganz sicher nur in den seltensten Fällen irgendeinen Anspruch auf Perfektion erhebt.
Kajetan hat geschrieben:
Ist Differenzieren so schwer, dass man alles Schwarz/Weiß sehen muss?
Wenn Du mit einem Spiel vor der Deinem Rechner oder Deiner Konsole sitzt, ergibt sich doch überhaupt kein Anlass für irgendeine Art der Differenzierung. Entweder macht es Dir genug Spaß, um es - trotz eventueller Fehler - durchzuspielen, oder eben nicht. Dann liegt es halt irgendwann in der Ecke. Eine Notwendigkeit zur Differenzierung ergibt sich doch erst in Foren wie diesen hier. Und die meisten Käufer von AC oder FC sind vermutlich nicht in solchen Foren unterwegs, sehen keine Notwendigkeit zur Analyse ihres Spielverhaltens oder einer differenzierteren Betrachtung des Gespielten, und kümmern sich einzig und alleine um den ganz individuellen Spaß, den sie mit einem Spiel haben (oder eben auch nicht). Sind sie deshalb schlechtere Menschen? Weil sie in Spielen das sehen, was sie in erster Linie nach wie vor sind - nämlich Unterhaltung, die ebenso anspruchslos ist wie Popcorn-Kino?
Genauso wie sich Cineasten daran gewöhnt haben, dass Woody Allens Filme gelegentlich etwas kopflastig sind, dass Hugh Grants Liebeskomödien nicht der richtige Ort für Sozialkritik sind und dass 90% der Technologien in Star Trek komplett unrealistisch sind, sollte man sich als Gamer irgendwann daran gewöhnen, dass Shooter (ob nun FC4 oder andere) selten etwas mit Realitätsnähe oder toller Charakterentwicklung zu tun haben. Da hilft auch das ewige Genöle nichts. Klar kann man weiternölen, aber die Chancen stehen eben sehr gut, dass sich in zwanzig Jahren nichts geändert haben wird - und dass das ganze Genöle letztlich Zeitverschwendung war. Die persönliche Abneigung gegen etwas ist das eine, die realistische Erwartung, dass sich daran in Zukunft tatsächlich etwas ändern wird, etwas völlig anderes.
Kajetan hat geschrieben:Weil sich Valve dafür entschieden hat den Spielercharakter ein Wissenschaftler sein zu lassen, hat man den Anfang des Spieles genauso gestaltet, dass es zu einem Wissenschaftler passt. Wie man an den beiden Addons sieht, hätte ein anderer Charakter und eine andere Einführung nichts an der grundsätzlichen Großartigkeit des Spieles geändert.
Mir hat Blue Shift deutlich weniger Spaß gemacht als HL, und das ganz sicher nicht nur deshalb, weil es kürzer war und ich es erst nach HL gespielt habe. Dass ein anderer Charakter nichts an der "grundsätzlichen Großartigkeit" eines Spiels ändert, lässt sich doch im Nachhinein auch gar nicht mehr zuverlässig beurteilen, sondern bleibt letztlich pure Spekulation. Wäre der allererste Entwickler-Gedanke bei HL tatsächlich ein "Wir lassen den Spieler einen Security-Mann spielen.", dann hätte sich das wie ein roter Faden durch das ganze Spiel und dessen Entwicklung gezogen und dabei möglicherweise zu Änderungen und Folgeänderungen führen können, die das Spiel vollkommen anders - und viel besser oder auch viel schlechter - gemacht hätten. Oder eben auch nicht. Solche Betrachtungen bleiben letztlich immer rein hypothetisch.
Das ist wie mit den Fehlern im eigenen Leben, die man heute vielleicht gerne rückgängig machen würde. Auch dabei dominiert die Vorstellung, dass man etwas verhindern möchte, das sich im Nachhinein als Schlecht herausgestellt hat, während der Gedanke, dass realistische und mögliche Handlungsalternativen, die man damals gehabt hätte, womöglich zu einem Resultat geführt hätten, das man heute noch viel mehr bereuen würde, meist völlig in den Hintergrund tritt.
Das heißt ja nicht, dass man Spiele nicht kritisieren und aus Fehlern nicht lernen soll, aber etwas mehr Entspanntheit und Gelassenheit beim Umgang mit einem nicht-perfekten Ist-Zustand - gerade, wenn es "nur" um Spiele geht - hat selten geschadet.
Kajetan hat geschrieben:
Natürlich. Man wird älter. Man sammelt Erfahrungen, der Geschmack ändert sich. Was früher gut war, muss heute nicht mehr automatisch gut sein. Was früher als schlecht empfunden wurde, kann heute vielleicht als faszinierend empfunden werden. Ich muss da nur z.B. meinen Filmgeschmack als kleiner Schüler und heute vergleichen
Sicher, aber es ging mir ja nicht (nur) um den Vergleich "Ich vor 20 Jahren" vs. "Ich heute", sondern auch um den Unterschied "20-jähriger Gamer heute" vs. "20-jähriger Gamer vor 20 Jahren". Und das meinte ich auch nicht irgendwie wertend oder mit einer Früher-war-alles-besser-Attitüde, sondern einfach nur die - für mein Empfinden teils recht krassen - Veränderungen reflektierend.
Kajetan hat geschrieben:
Wenn ich Deine Argumentation aufnehme, dann sagst Du eigentlich, dass der Core-Gamer sich darüber bewusst ist, was er spielt und er auch darüber reflektiert, während der Gamer halt einfach nur konsumiert und keinen Gedanken darüber verschwendet, was er eigentlich tut?
Ich denke, es gibt ein paar Casual-Gamer, die sich zu wenige, und ein paar Core-Gamer, die sich zu viele Gedanken machen, und dazwischen ganz viele, die mit dem Medium genau so umgehen wie es die Masse auch mit Büchern oder Filmen macht; und dabei wird dem Medium "Computerspiel" im Großen und Ganzen genau das Maß an konsumistischer Haltung oder Unreflektiertheit entgegen gebracht, das es in seinem gegenwärtigen Zustand verdient hat - nicht mehr, aber auch nicht weniger.